Die Stasi über die Arche

Rainer Roczen:
Unser Zentrum liegt in Rom

Henry Klix              Die Potsdamer Arche
Aus: “Widerstand in Potsdam 1945 – 1989"

Be.braVerlag, Berlin.Brandenburg; 1999Aus der Stasi-Akte Nr. 28/89, Potsdamer Bezirksverwaltung

Am 30. 9. 1986 konstituierte sich aus dem bereits in Potsdam existenten "Kreis Junger Erwachsener" (KJE) die Basisgruppe "Arche". Für ihre Aktivitäten nutzt die Gruppe in Eigeninitiative ausgebaute Kellerräume des Katholischen Kindergartens "St. Georg", Potsdam, Hebbelstr. 9. Bei der "Arche" handelt es sich entsprechenden Selbstdarstellungen zufolge um eine überkonfessionelle "Basis­gruppe", die allen interessierten, auch konfessionell nicht gebundenen Personen offensteht. Ihr gehe es darum, zu aktuellen Problemen der gesellschaftlichen Ent­wicklung in der DDR Stellung zu nehmen, ohne direkte, öffentlichkeitswirksame Aktionen durchzuführen. Als Initiator, Organisator und Leiter der "Arche" pro­filierte sich zunehmend der Roczen, Rainer ... Der Genannte trat in der Vergan­genheit wiederholt ins Blickfeld des MfS ...

Interview mit Rainer Roczen 

Der Stasi- Bericht liest sich, als hätte man eure Arbeit recht genau registriert. Was war die Arche, und wie hielt sie sich in DDR-Zeiten über Wasser? 

Das Arche-Angebot bestand im wesentlichen aus thematischen Abenden mit sachkundigen, kritischen Referenten und anschließender Diskussion. Wir haben versucht, uns entsprechend unseres Selbstverständnisses als Christen zu begründen. Unser Name sollte im Sinne der biblischen Geschichte von Noah Programm sein. Als Gruppe innerhalb der St. Peter und Paul-Gemeinde konnten wir uns auf die katholische Weltkirche berufen. Deren Zentrum liegt in Rom.

Am 15. Oktober 1986 und am 21. Mai 1987 kam der Liedermacher Stephan Krawczyk in die Arche, und ihr wurdet bekannt in oppositionellen Kreisen in Potsdam. Konntet ihr euch überhaupt mit Krawczyk identifizieren?

Krawczyk war kein Christ, und an der Stelle ging es völlig auseinander mit uns. Wir haben ihn in der Arche aber als willkommenen Gesprächspartner akzeptiert und gewollt. Und auch hier konnten wir uns auf das II. Vatikanische Konzil berufen: Auf ihre Weise sind auch Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung, denn sie bemühen sich um das Verständnis des ei­gentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Weit zu erkennen und zu vollenden." Ich glaube, daß wir die religiöse Orientierung für wichtig erachteten, ist mit ein Grund dafür, daß es uns in dieser Form noch gibt

Es waren meines Wissens selten so viele Leute in der Arche wie an den Abenden mit Krawczyk. Gab es organisierte Störungen? 

Es kamen etwa 60 bis 70 Besucher, und unsere Räume waren rammelvoll. Es war eine gute Atmosphäre, es gab keine initiierten Störungen, wie wir überhaupt nie offensichtliche Stasi‑Provokationen hatten. Dem ist aber etwas hinzuzufügen: Es gibt gegenüber der Arche ein Haus, in dem damals das Polizeimusikorchester probte. Die Probenräume im Erdgeschoß wurden von den Musikern nicht genutzt, wenn unsere Veranstaltungen stattfanden. Wir wissen, daß die Stasi von dort aus unsere Besucher fotografierte. Ein Arche‑Mitstreiter wurde auf seiner Arbeitsstelle aufgesucht. Er sollte als Informeller Mitarbeiter geworben werden, übrigens erfolglos, weil er sich weigerte und dem Gemeindekaplan von dem Anwerbeversuch berichtete. Bei dem Versuch wurde ihm ein Foto mit einer Ansicht der Arche gezeigt, das nur von gegenüber aufgenommen worden sein konnte.  

Aus welchen Kreisen kamen eure Besucher?

im festen Kern gab es etwa 15 Aktive beider großer Konfessionen, die dafür sorgten, daß die Arche schwamm. Die Gruppendynamik läßt sich mit einem Atommodell mit Kern und Elektronenbahnen vergleichen. Der Abstand zum Kern war unterschiedlich groß, und es gab auch regelmäßige Besucher, die sich bewußt in den äußeren Bahnen bewegten. Wir hatten ja den Ruf, gesellschafts­kritisch zu sein. Zu nennen wären auch die Gäste mit Ausreiseantrag, 1988 hatten wir sogar Leute aus kritischen SED-Kreisen da und Zehnender, Bürger mit zehnjähriger Dienstverpflichtung bei der NVA, die am Dialog interessiert waren. Nach der Rosa-Luxemburg-Demo und dem Sputnik-Verbot brannte ja auch bei einigen Kommunisten die Luft.   

Ihr habt in der Arche die Grenzen immer nur getestet, aber nie überschritten.

Für uns war es wichtig, den Kahn über Wasser zu halten, Wir haben damit ge­rechnet, daß es lange dauern kann, bis es zu Veränderungen kommt, und woll­ten taktisch klug vorgehen. Es war eine Gratwanderung. Das Schlimmste für mich, und ich glaube, da kann ich auch für die anderen Arche-Mitstreiter sprechen, wäre damals die Abschiebung gewesen. Keiner wollte dahin, wo Krawczyk hingekom­men ist. Die Arche-Leute waren religiös eingebunden und in Potsdam verwurzelt. Keiner wollte Karriere oder großen Wohlstand. Wir hatten eher die Wahrheit und Freiheit im religiösen Sinn im Blick mit privaten und politischen Konsequenzen.

Wie hat sich eure Systemkritik geäußert?

Durch die Themen- und Referentenauswahl unserer Abende und durch Ironie, Am 17. Juni 1989 hatten wir zum Beispiel eine Ausstellung mit dem Titel "Menschliches", wo skurrile Objekte von befreundeten Künstlern ausgestellt wurden - etwa ein Vogelkäfig, in dem eine Puppenstube eingerichtet war. Das Thema der Luxemburg-Demo, " Freiheit ist immer auch die Freiheit der Anders­denkenden", tauchte immer wieder auf. Aber auch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl war ein Thema.

Gab es eine religiöse Reflektion dieser Themen?

Wir hatten Friedensgebete in der Peter- und Paul-Kirche oder der Hebbelstraße. Die waren vielleicht nicht so spektakulär wie in Leipzig, hatten aber denselben Ansatz. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es auch kontemplative Montagsge­bete bei mir zu Hause in der Lennestraße 76. Ein Auslöser dafür war die Aktion "Schweigen für den Frieden " 1983 am Brandenburger Tor in Potsdam. Damals hatte sich eine Gruppe von Leuten im Kreis aufgestellt und bekundet, daß sie für den Frieden schweigt. Es ging um die Aufrüstung in Ost und West.

Gab es 1989 von euch organisierte, öffentliche Aktionen außerhalb der Arche-­Räume ?

Am 14. April 1989 führten die Arche-Leute eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof in der Heinrich-Mann-Allee durch, wo die Opfer der Potsdamer Bombennacht liegen. Ich kann mich erinnern, daß da ganz auffällig Stasi-Leute in den Büschen herumstanden, Aber damals haben wir das schon nicht mehr ernst ge­nommen und den Spieß umgedreht, indem wir sie sozusagen zurück beobachteten.

Einer der Höhepunkte des Arche-Jahres 1989 war die Lesung von Lutz Rathenow.

Ich kann ja mal aus dem Stasi-Bericht zitieren: "Am 18.4.1989 (19.30 - 21.00 Uhr) führte der als feindlich-negativ bekannte Schriftsteller Rathenow, Lutz (Berlin) in den Räumen der Arche' vor ca. 35 Zuhörern eine Lesung unter Leitung von Roczen durch. Die von ihm vorgetragenen Texte richteten sich in der Grundtendenz gegen unsere gesellschaftliche Entwicklung, bestehende Moral­auffassungen sowie speziell gegen die Sicherheitsorgane. Dies wurde besonders deutlich beim Vortrag einer unveröffentlichten Geschichte über einen Spion (ge­meint ist damit ein Mitarbeiter des MfS). Nach der Lesung wurden zum Preis von 10,00 Mark fünfzig im NSA verlegte Bücher des Rathenow zum Verkauf an­geboten. Dabei handelt es sich um die Titel „Zangengeburt“ und „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“. Die Nachfrage war groß; alle vorhande­nen Exemplare wurden abgesetzt. Der überwiegende Teil der Anwesenden reagierte betroffen auf das Vorgetragene und verließ nach Lesung und Verkauf die Veranstaltung. In persönlichen Gesprächen wurde zum Ausdruck gebracht, daß sie den Eindruck hätten, Rathenow würde unsere Gesellschaft bewußt negativ, pessimistisch und boshaft darstellen."

Wie sich nach der Wende zeigte, hat die Stasi genau und gründlich gearbeitet.


Ja, bis auf die geschilderte Betroffenheit ist der Bericht inhaltlich auch korrekt. Ich habe den Eindruck, die Stasi hat die Reaktionen auf Rathenow bewußt fehlinterpetiert. Sicher sollte der Bericht aber Argumente gegen Rathenow liefern. Er ging an die Bezirksleitung der SED.

Welche Kontakte hattet ihr zu anderen, oppositionellen Gruppierungen in Potsdam?

Es gab vor allem persönliche Verflechtungen. Engen Kontakt hatten wir zu Mit­gliedern der Gruppe Argus, und wir haben für deren Veranstaltungen gewor­ben. Ähnlich geartete Kontakte gab es zum Beispiel zur "Schmiede" in Babels­berg und dem Hauskreis um Klaus Hugler. Kontakte waren vor allem für die Werbung wichtig, denn wir konnten nur an einigen Stellen in der Stadt Plakate aufhängen: meistens in der evangelischen Buchhandlung in der Gutenbergs­traße, in der Peter-und-Paul-Kirche und im St. Josef-Krankenhaus. Die Plakate mußten in der Regel von Hand gemalt werden, vervielfältigen war etwas kompliziert.

Wie habt ihr euch von den oppositionellen Gruppen innerhalb der evangeli­schen Kirche unterschieden?

Viele Gruppen, die im evangelischen Spektrum angesiedelt waren, haben sich in die Politik hinein aufgelöst. Die Gründe dafür seien dahingestellt. Das war bei uns anders. Der christliche Glaube spielte immer eine zentrale Rolle. Wir be­trachteten die politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Themen immer in seinem Licht, Auf diesem Weg brauchten wir keine Angst zu haben, partei­politisch verschluckt zu werden, noch brauchte ein anderer Angst zu haben, daß wir ihn schlucken.

Was hattet ihr für ein Verhältnis zum politischen System in der DDR?

Die meisten Leute hatten ja aufgrund ihres Alters nichts anderes als die DDR kennengelernt. Wenn ich über unsere Vorstellungen bis 1989 sprechen soll, denke ich: Die meisten blieben gedanklich innerhalb des sozialistischen Systems im Sinne von Glasnost und Perestroika. Wir hatten aber auch Leute, die das aus philosophischer oder religiöser Sicht ablehnten und weitergingen. Wir haben zumindest alle das gesellschaftliche Ideal gelten lassen, das sich später als Illusion herausstellte, aber niemand war wirklich eng mit dem bestehenden System verbunden, so daß es nach der Wende auch keine persönlichen Zusammenbrüche bei uns gab.

Wir sind bis heute politisch wach geblieben, auch wenn Parteipolitik zu machen nicht unser Anliegen ist. Es gibt da diese berühmte Verdrehung einer SED­-Kampflosung von Pfarrer Brüsewitz. Die ursprüngliche Losung lautete: "Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein." Brüsewitz konterte: "Ohne Sonnenschein und Gott geht die ganze Welt bankrott." Das behalten wir im Blick.